Prolog
Mein Arbeitgeber hat mir Urlaub eingeräumt. Etwas widerwillig zwar, aber immerhin. Jetzt liegen mir zwei Wochen zeitlicher Freiheit und dank eines Wohnmobils auch räumliche Ungebundenheit zu Füßen. Ich fühle mich verpflichtet, beides effizient zu nutzen.
Wohin soll ich fahren? Die knappe Zeitspanne lässt keine große Rundreise zu, sondern zwingt zur Auswahl eines Ziels. Mein Traum: mit unbegrenzter Zeit die Reise ihren eigenen Rhythmus finden zu lassen - ohne genauen Plan und mit offenem Ausgang einfach jedem Ort die ihm zustehende Zeit zu gewähren. Diese Utopie muss wohl bis zum Ende des Berufslebens warten. Noch dazu ist Urlaubszeit nur geliehen, nicht geschenkt: Am Ende nämlich – wenn einen am ersten Arbeitstag ein überquellender Schreibtisch auslacht, muss man alles wieder zurückzahlen.
Wohin also? Unweigerlich zieht es mich, nach langen Jahren der Abstinenz, wieder an die Orte meines jugendlichen Verlangens zurück: den Süden Frankreichs. Wenn ich eine Landkarte der Cote d’Azur anschaue, beschwören alleine die Namen der Städte Erinnerungen, Einbildungen und Sehnsüchte herauf. Beim Klang von Städtenamen wie Nizza, Cannes oder Le Lavandou spüre ich die Hitze des Sommers, sehe tiefblaues Wasser in Meeresbuchten, klassische Villen vor Traumkulissen und eine zeitlose Eleganz leichten Lebens. Eigene Erfahrungen und die Szenerien von Filmklassikern mit Grace Kelly auf den unvergleichlichen Küstenstraßen vermischen sich zu einem geistigen Komplott unentrinnbarer Anziehungskraft. Mit Anfang 20 war ich gefühlt zwei mal im Jahr dort unterwegs gewesen, damals, als die eigenen Ansprüche noch die eines jungen Mannes waren: Motorrad und Schlafsack, fertig. Nach einer Nacht im Freien auf einem Campingplatz in San Remo ergänzte ich die Liste um ein Zelt, als mir im Morgengrauen kalter Regen ins Gesicht klatschte. Gut, San Remo ist nicht die Cote d’Azur, aber Italiens ligurische Küste über Frankreichs Mittelmeerstrände bis zur Camargue waren quasi eine einzige Aneinanderreihung von aufregenden Kurven entlang der Küstenstraße. Wer kümmert sich um geografische Feinheiten, wenn neben der Fahrbahn rechts die Felsmassive und links das Meer den Raum bestimmen, und die Zeit nur aus dem Rhythmus der Windungen der Straße besteht? Ich jedenfalls nicht, der Weg war das Ziel.
Alten Erinnerungen nachzujagen statt neue Eindrücke zu schaffen ist eine gefährliche Angelegenheit und geht gerne schief. Erinnerungen sind bunte Seifenblasen, die Substanz zerspringt, doch das Zerrbild darauf bleibt haften. Mir egal, ich gebe der Versuchung nach: Die Camargue soll es werden! Das seltsame flache Land im Rhone-Delta ist das Holland Frankreichs, nur mit Flamingos. Mit meiner Heimat in der oberrheinischen Tiefebene hat es gemein, dass die höchsten Erhebungen nicht Berge sind, sondern Eisenbahnbrücken, wobei die Camargue auch keine Eisenbahn hat. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil beim Fahrradfahren. Wenn ich an meine letztjährigen Eskapaden in den dinarischen Alpen in Kroatien zurückdenke ist das unheimlich attraktiv. Flach soll es sein, einfach nur flach. Camargue, ich komme, je reviens!
Tag 1
Man kann kaum schreiben, die Sonne blendet, auf dem Bildschirm meines Notebooks ist nichts zu sehen. Mit 50 Jahren Lebenserfahrung und noch dazu als Fotograf hätte man eigentlich wissen können, dass auch ein großes Wohnmobil um die Mittagszeit höchstens unter dem Fahrzeug Schatten spendet, aber nicht daneben, wo ich jetzt sitze. Ich schnippse meine Zigarettenkippe an den Straßenrand, beobachte wie sie fliegt, sich in der Luft dreht, auf dem Asphalt landet und schließlich im kümmerlichen Grün einer unscheinbaren Pflanze ausrollt. Es ist genau die Pflanze, die sich auf meiner Terrasse wie Unkraut in jedem Blumentopf breitmacht, und für einen Moment sehe ich mich dort zuhause sitzen. Hunderte von den Trieben habe ich herausgerupft, und für eine spießbürgerliche Ordnung gesorgt. Endlich bietet sich die Gelegenheit zu erfahren, was aus ihnen geworden wäre, hätte man sie wachsen lassen: Nichts. Unkraut, unscheinbares, nur des Herausrupfens wert. Warum wächst nur Unkraut wie Unkraut, und Orchideen nicht?
Ich bin die halbe Nacht gefahren, habe am Straßenrand übernachtet und mache Frühstück. Ein Vorteil beim Verreisen mit dem Wohnmobil liegt darin, dass man nicht drei Tage vorher den Kühlschrank leer essen muß und am Tag der Abreise die verbleibenden Reste wegwirft. Mit dem Wohnmobil packt man einfach alles um. Deshalb begleiten mich ein halbes Brot und eine ebensolche Leberwurst, um bei diesem Frühstück ein gemeinsames Ende zu finden. Nebenbei kann man sie auch noch als sinnfreien Titel für einen Reiseblog missbrauchen, siehe oben.
Frankreichs Süden liegt in der Luft. Der Wind weht anders als zuhause, und das Licht ist nicht dasselbe. Ganz leise schleicht sich ein erstes Gefühl von Urlaub ein. 200 Kilometer bis Arles liegen vor mir, ich rauche vorsichtshalber noch eine (im geliehenen Wohnmobil ist es verboten) und nehme die Straße unter die Räder. Die Landstraße, um genau zu sein, denn die Maut für ein paar hundert Kilometer Autobahn letzte Nacht war höher als das Bruttoinlandsprodukt manches Dritte-Welt-Landes. Dafür waren die Autobahnen schön leer, denn der gemeine Franzose kann sich das noch weniger leisten als ich. Die Landstraßen dagegen sind völlig unberechenbar. Von stattlich ausgebauten, zweispurigen Schnellstraßen bis zu Tempo-30-Zonen malerischer, aber verwinkelter Gassen reicht das Repertoire der Nationalstraßen. Man kommt nicht voran, sieht aber viel.
Am späten Nachmittag erreiche ich - zusammen mit einer großen Autokolonne - Les Saintes-Marie-de-la-Mer. Kurz vor der Stadtgrenze kommt mir auf der Straße ein pferdegezogener Zug von fünf oder sechs Waggons, die aussehen wie aus dem Kinderferienland, entgegen. Darin sitzen aber nur Erwachsene, das Ganze wirkt ein wenig grenzdebil, und auch die 100 Autofahrer, die im Schritttempo dahinter folgen, wirken nur geringfügig amüsiert. Stadteingangs wirbt eine Touristenattraktion neben der anderen um die Gunst der Anreisenden, Vogelpark, Tennis, geführte Touren, Reiten, wilde Stiere zum Anschauen und zum Verzehr. Noch bevor ich den Marktplatz erreiche, habe ich die Lust an der Stadt verloren. Zum Weiterfahren ist es zu spät, ich bin müde, und außerdem soll man nie nach dem ersten Eindruck gehen. Ich mache mich auf die Suche nach dem ersten Campingplatz und finde ihn nicht.
Das Navigationsgerät, gepriesen sei es, findet den zweiten Campingplatz der Stadt ohne zu murren. „La Brise“ nennt er sich, und weil ich auf der Hinfahrt mindestens fünf mal die gleiche CD mit Lynyrd Skynnards „They call me the Breeze“ gehört habe, sind beide jetzt für immer untrennbar verschmolzen. Die Briese ist nicht wirklich frisch, eher so ein laues Lüftchen für Anspruchslose. Wenn die Stadt sowieso so viele Touristen anzieht, wieso sich dann noch Mühe geben und einen Campingplatz ansprechend gestalten? Was solls, frischen Wind kann ich auch morgen noch haben, ich lasse mich nieder. Leider wartet der Wind aber nicht bis morgen, sondern fegt unbarmherzig über das Land und bläst mir fröhlich das Abendessen von der Gabel. Ich versuche verzweifelt, im Windschatten des Autos ein geschütztes Plätzchen zu finden.
Ich kenne Les-Saintes-Maries-de-la-Mer seit Mitte der achtziger Jahre. Die Stadt mit dem sperrigen Namen hatte damals schon begonnen, sich zu wandeln. Aus dem winzigen, unschuldigen Fischerdorf, das bis Mitte des 19ten Jahrhunderts noch weniger als 700 Einwohner gezählt hatte, begann ein Touristenmagnet zu werden. Bei meinem ersten Besuch war die Richtung schon grob erkennbar, aber noch harmlos. Einheimische hatten begonnen, Teile ihrer Häuser und Anbauten als Apartments zu vermieten. Alles war individuell gestaltet, und liebevoll zusammengeschustert, die Stadt wuchs zwar, aber zunächst noch ohne Plan.
Zwei mal im Jahr treffen sich die Zigeuner Europas dort zur Wallfahrt, denn in der örtlichen Kirche werden Reliquien der „Schwarzen Sara“ aufbewahrt, der Schutzheiligen der Sinti und Roma. Dann platzt die Stadt aus allen Nähten, und an den Abenden wird gefeiert, was das Zeug hält. Flamenco an jeder Straßenecke, Gitarrenspieler, Tänzer und Stimmengewirr bis tief in warme Nacht des Südens. Einmal war ich dabei gewesen, und ich werde nie vergessen, wie einer der Protagonisten mir drohte, meine mitgereiste Freundin zu stehlen, denn er sei schließlich Zigeuner und tue das von Rechts wegen und durchaus regelmäßig.
Die Zahl der Einwohner hat sich mittlerweile verzehnfacht, die Zigeuner kommen immer noch, aber von der Ursprünglichkeit der Stadt ist nicht mehr viel geblieben. Zu deutlich sind die stadtplanerischen Akzente zu sehen, die alles moderner, aber leider auch völlig austauschbar gestalten. Die neugebaute Strandpromenade kann viel mehr Touristen aufnehmen als die schmalen Stege früher und imitiert problemlos die seelenlose Mondänität namhafter Strandbäder.
Wir alle möchten in einem malerischen, unberührten kleinen Fischerdorf Urlaub machen. In einem authentischen Restaurant zu Abend essen, Ruhe und Abgeschiedenheit genießen und Kraft aus dem natürlichen Flair ziehen. Kann das gut gehen, wenn alle die gleiche Idee haben? Es ist wie mit dem Rätsel um das Schweigen, das ich aus Roberto Benignis wundervollem Film „Das Leben ist schön“ kenne: „Sobald du meinen Namen nennst bin ich verschwunden.“ Natürlich sind immer die Heerscharen von anderen Touristen schuld, die das Dorf überschwemmen und zu einem Ferienkarneval degradieren. Selbstkritisch müsste man eigentlich zugeben: Man stehst nicht im Stau, man ist der Stau.
Tag 2
Am anderen Tag fahre ich weiter. Les-Saintes-Maries habe ich aufgegeben, aber die Camargue als Ganzes noch nicht. Ich lasse mich ohne jede Eile über das flache Land treiben, halte hier, mache ein Foto dort, und finde mich schließlich am Nachmittag auf einem Campingplatz vor den Toren von Aigues-Mortes wieder. Der Platz ist ziemlich leer, denn es ist schon wieder Nachsaison. Nachsaison oder Vorsaison oder gar keine Saison sind meine Reisezeiten, denn im Hauptberuf vermiete ich Wohnmobile, und ein Eisverkäufer macht auch nicht im August Urlaub. Jedenfalls nicht, wenn er halbwegs bei Sinnen ist.
Weil der Platz so leer ist, darf ich mir in aller Ruhe eine Parzelle aussuchen. Der erfahrene Camper meidet Stellen des Lärms ( Geschirrspülplätze, Kinderhüpfburgen), sucht die entfernte Nähe sanitärer Anlagen, angenehme infrastrukturelle Anbindungen zur Verkaufsstelle morgendlicher Backwaren und – wenn er Langschläfer ist – die schattenfreie Ausrichtung der Parzelle nach Süd-Westen. Alle Kriterien unter einen Hut zu bringen erfordert einen wachen Geist und ist angesichts der Schwere der Entscheidung eines Urlaubstages eigentlich nicht würdig. Also lasse ich mich einfach irgendwo nieder, wo die Sonne gerade scheint und eine Hecke den Mistral abhält.
Die nächsten Tage verlaufen ereignislos. Ich esse Pizza, unternehme belanglose Radausflüge durch die Camargue und esse mehr Pizza. Abends ist es viel zu kalt.
Die Camargue ist, um es freundlich auszudrücken, kein unfreundliches Land, und um es noch freundlicher auszudrücken überfordert sie den Besucher in keinster Weise durch ständig wechselnde Landschaftsbilder oder Sinneseindrücke. Mit einer nur geringfügig negativeren Grundeinstellung könnte man sogar behaupten, sie sei landschaftlich wenig abwechslungsreich.
Nach zwei Tagen habe ich das mittelalterliche Aigues-Mortes gesehen, die nahegelegenen Salinen und schwarze Stiere, die durch flaches Land laufen. Jedem Strauch am Wegesrand bin ich mindestens zwei mal begegnet, und bevor ich anfange, ihnen Namen zu geben, lasse ich mich vom Wetterbericht nach Spanien locken.
Tag 3
Ich will weiter, aber aus Bequemlichkeit verschiebe ich den Aufbruch Stück für Stück über den ganzen Tag. Abends dann gehen mir die Ausflüchte aus, und eine frisch angereiste Vierergruppe, die gegenüber ihr Domizil bezieht und gröhlend die Veranda einweiht, gibt mir den letzten Impuls. Also Wohnmobil startklar machen, auschecken, Abwassertank entleeren, und es ist noch nicht einmal 20h30, als ich mich auf den Weg mache. Eine gute Zeit zum Reisen. Ein Campingplatz bietet Komfort, Sicherheit und Steinofenpizza, wenn man ihn verlässt, begibt man sich wieder auf unsicheres Terrain. Andererseits ist es ein gutes Gefühl, mit gepacktem Auto wieder auf der Straße zu sein. Die Abenteuerlust gewinnt die Oberhand. Ich fahre durch Montpellier Richtung Barcelona, die nächtlichen Landstraßen sind wenig befahren und ich komme gut voran. Auf meinen Reisen in früheren Jahren war ich nie weiter westlich als bis Narbonne gekommen. Ab hier beginnt endlich Neuland. Gegen Mitternacht erreiche ich die Küste bei Perpignon und mache mich auf die Suche nach einem Platz für die Nacht. Ein paar Abzweigungen hier und eine Seitenstraße da: nichts ist mir gut genug. Ein bisschen abgelegen und ruhig soll es sein. In dunkler Nacht ist gar nicht so einfach abzuschätzen, wo man am nächsten Morgen aufwacht.
Ich erinnere mich an eine Motorradtour mit Freunden. Wir waren jung und fuhren einfach drauflos, bis abends die Dämmerung einbrach. Unbekümmert schlugen wir unsere Zelte auf einem freien Platz neben der Straße auf. Am nächsten Morgens wurden wir zeitig und eindrucksvoll geweckt, weil uns Bagger und Baumaschinen umkreisten. Wir hatten im Halbdunkel die Baustelle eines Atomkraftwerks als Nachtlager gewählt.
Mittlerweile ist es spät geworden, richtig spät, und ich finde schließlich ein idyllisches Plätzchen weit entfernt von allen Straßen. Ein kleiner Wasserlauf schlängelt sich durch eine Wiese, auf der einzelne Obstbäume stehen. Während das Wasser in aller Ruhe vor sich hinplätschert wirft das Mondlicht die Schatten der Baumkronen weich ins Gras. Hier will ich bleiben. Ich trinke ein Bier, lausche den Sternen, die nicht viel sagen, und schlafe friedlich ein.
Am frühen Morgen schrecke ich hoch: Schreie, Hundegebell, schließlich fallen Schüsse. Ich versuche zunächst, alles zu ignorieren und auf einen schlechten Traum zu schieben, aber es wird nur noch lauter, und der Lärm kommt näher. Benommen drehe ich mich um und hebe vorsichtig den Kopf, bis ich aus dem Fenster sehen kann. Leichter Morgennebel liegt über der Wiese, der Bach fließt immer noch, und auf der anderen Uferseite sehe ich schemenhaft Hunde und Menschen. Einige der letzteren tragen Gewehre, andere sind laut, und nach einer Weile beginne ich zu verstehen: eine Treibjagd. Wieso jetzt, wieso hier? Können Jäger nicht einfach ausschlafen und ihre Steaks nachmittags im Supermarkt kaufen, wie jeder vernünftige Mensch? Gibt es unter Jägern eigentlich Vegetarier? Nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich zieht die Gesellschaft vorbei, wird wieder leiser, und das Hundegebell verliert sich im Wind. Dankbar lasse ich mich in die Kissen fallen und schlafe wieder ein.
Das stille Glück indes ist nur von kurzer Dauer, denn – einem alten Naturgesetz folgend – kommt alles, was in die eine Richtung geht, irgendwann auch wieder zurück: eine halbe Tiefschlafphase später passiert mich das Spektakel wieder auf seinem Rückweg. Erschrecken, Aufwachen, wieder einschlafen. Aus Protest werde ich heute nur Tofu essen.
Tag 4
Ich bin im Norden Spaniens, an der Costa Brava, auf einem Campingplatz am Meer, und habe die abgelegenste Ecke gewählt. Ich möchte eigentlich gar nicht hier sein. Jede Stadt, jeder Ort und jeder Campingplatz hat eine eigene Atmosphäre jenseits der Beschreibbarkeit, und dieser hat die Atmosphäre eines Lagers. In streng geometrisch ausgerichteten Reihen stehen Wohnmobile und Zelte dicht aneinandergedrängt. Alle Reihen laufen auf das Gebäude der Rezeption zu, vor meinem geistigen Auge die Baracke der Lagerleitung. Es hat geregnet, die Wege sind noch nicht abgetrocknet, und zu viele Autoreifen haben Pfützen und Sand in Schlamm verwandelt.
Parzelle grenzt an Parzelle, Wohnmobil an Wohnwagen und Zelt an Vorzelt. Wenn jemand aus irgendwelchen Gründen mal auf jegliche Privatsphäre verzichten möchte, ist er hier bestens aufgehoben, und ich gebe die Adresse gerne weiter.
Wer John Steinbecks „Früchte des Zorns“ kennt, wird spontan an die Zeltlager erinnert, in denen die reisenden Tagelöhner und die prekär beschäftigen Obstpflücker untergebracht waren. Ich wandle literarisch auf den Spuren der Familie Joad, und der kleine Krämerladen auf dem Platz passt auch ganz wunderbar ins Bild: zu kaufen gibt es wenig, das Wenige dafür zu halsbrecherischen Preisen. Warum auch nicht, der nächste Supermarkt liegt irgendwo im nirgendwo, und wir haben ein Paradebeispiel für ein Monopol. Genau wie die Joads beiße ich mir auf die Zunge und zahle. Immerhin ist die Situation auf dem Zigarettenmarkt entspannt: es gibt einen Automaten (!), den ersten seit einer Woche, und wo mich die Franzosen ohne rot zu werden um 7 Euro 50 für eine Schachtel beraubten, ist es hier die Hälfte. Ich werde einfach mehr rauchen und weniger essen.
Überhaupt die Franzosen! Ich muß meine über das ganze Leben hinweg sorgsam aufgebauten Vorurteile samt und sonders über den Haufen werfen. Ich wurde groß im Wissen, dass der gemeine Franzose filterlose Zigaretten raucht, wo er geht und steht und Auto fährt als gäbe es kein Morgen mehr. Was ist aus den Erfindern des Kreisverkehrs geworden, den Pionieren der runden Kreuzungen? Wenn wir in meiner Jugend nach Frankreich fuhren und auf den ersten Kreisverkehr trafen, war das fast so eindeutig, wie den Eiffelturm zu sehen: das war jetzt Frankreich. Die eigentümliche Verkehrsführung war ein Stück nationaler Identität, unverkennbar und einzigartig. Als die Verkehrsplaner vor 20 Jahren nach und nach begannen, auch Deutschland zu verkreiseln, waren wir anfangs noch angenehm überrascht. Ein Kreisel zu hause weckte sogleich Urlaubsgefühle, der Duft von Elsässer Flammkuchen lag quasi in der Luft. Später, als sich zeigte, wie unbeholfen und ungeschickt die Deutschen ihre Kreisel befuhren, spotteten wir, dass unser Volk wohl einige Jahrzehnte verkehrstechnisch-evolutionär hinter den Franzosen zurücklag.
Leider haben sich die Franzosen den Deutschen angepasst und nicht umgekehrt. Der gemeine Franzose von heute fährt immer noch einen Kleinwagen von Peugeot oder neuerdings einen Spielzeug-SUV, hat das Kreiselfahren verlernt und benimmt sich überhaupt nur noch mädchenhaft im Straßenverkehr. Mit dem vollgepackten Wohnmobil samt Fahrrad huckepack ist man auf unbekannten Strecken eigentlich nicht der schnellste, aber mehrere Franzosen avancierten selbst gegenüber meinem fahrenden Haus zum Verkehrshindernis. Und wann ich den letzten alten Mann mit einer Gauloises im Mundwinkel gesehen habe, weiß ich auch nicht mehr. Was ist aus der Grand Nation geworden, wofür sollen wir sie noch bewundern?
Natürlich bleibt immer noch der Wein, und die Kultur des Trinkens. Der Franzose hat den Wein als höchstes Kulturgut inne, quasi mit der Muttermilch aufgesogen, sozusagen das Slow-Food des Trinkens. Dazu sei nur angemerkt, dass mir in der letzten Bar ein Glas Rosé im Plastikbecher gereicht wurde. Mit Eiswürfeln. A votre Santé!
Genug der Franzosen, denn ich habe ihr Land verlassen, und hin zu den Spaniern. Genaugenommen hatte ich noch keinen einzigen Kontakt zu keinem einzigen Spanier, denn die Rezeptionistin des Campingplatzes ist Deutsche, und die Prostituierten, die mir auf einem Parkplatz zuwinkten, waren womöglich Spanierinnen, zählen aber nicht als Kontakt.
Der Campingplatz ist mittlerweile totenstill, absolut geräuschlos, so leise dass ich das Blut in meinen Ohren rauschen höre. Offensichtlich bedingt die räumliche Nähe auch einen gemeinsamen zeitlichen Rhythmus. Alle machen immer alles gleichzeitig, duschen, Mittagessen, Abendessen, und jetzt wird eben geschlafen. Unheimlich das Ganze. Es gibt nicht einmal eine Straße, von der das Rauschen von Verkehr zu hören wäre. Eine so monumentale Stille habe ich das letzte Mal in den Wäldern Schwedens wahrgenommen. Ich trinke ein letztes Bier, und hoffe auf gutes Wetter morgen.
Epilog
Die nächsten beiden Tage verbringe ich mit Fahrradausflügen nach Roses (liegt erwartungsgemäß in die Bucht von Roses) und nach L’Escala (immer noch Bucht von Roses), wo ich beim Besuch der antiken griechischen Ausgrabungsstätte von Empúries versehentlich den Eintritt prelle.
Es folgt die Heimfahrt, und zwei Tage später ein lächerlich überfüllter Schreibtisch.
Lichtbildnerei Peter Jean Geschwill
Mannheimer Strasse 15-17
68723 Schwetzingen
Fotografie Schwetzingen, Mannheim, Heidelberg